Zeitgeschichte und Erinnerung – mehrfachbelichtet

 

Haarschopf, Augenbrauen, Nasenlöcher und Lippen heben sich rot von einer weißen Leinwand ab, nur Andeutungen eines Gesichts. Doch schon auf den ersten Blick formt sich daraus ein Konterfei: Leonid Breschnew. Eine weitere Figur steht dem sowjetischen Staats- und Parteichef gegenüber. Der Kopf ein schemenhafter blasser Fleck, darin Lippen, Nase und Augen als schmale rote Striche. Zweimal, dreimal hingeschaut: Das muss wohl Walter Ulbricht sein, der zum damals üblichen Bruderkuss ansetzt. Denn auf genau diese Szene warten Journalisten, hier ganz typisch mit ihren gezückten Kameras. Nach und nach setzt sich – aus historischer Kenntnis und mit etwas Kombinationsgabe – das Bild zusammen, oder vielmehr: eine von vielen möglichen Sichtweisen.

Unter der Szene in rot nämlich liegt eine zweite, blaue Bildebene. Das sind in einer Reihe aufgefahrene Autos, gestoppt vor einem Wachhäuschen mitten auf einer großstädtischen Kreuzung. Dieses Bilderrätsel ist rasch gelöst: Checkpoint Charlie, die Kontrollstelle im geteilten Berlin. Dabei kommt allerdings die eigene Erinnerung zu Hilfe, schließlich war der alliierte Grenzübergang kein geschichtsträchtiger, „einmaliger“ Moment, sondern Symbol und Sinnbild der über Jahrzehnte andauernden Teilung der Stadt. Also ein Zustand, den fast jeder „persönlich“ erlebt hat.

 

Nicht nur die Bildebenen, auch unterschiedliche Quellen lässt Peer Boehm ineinanderfließen. Die Vorlagen für Aquarelle und Zeichnungen sind Fotos, am Computer bearbeitet und auf Ausschnitte mit extremen Hell-Dunkel-Kontrasten reduziert. Dadurch entstehen seltsame Leerstellen und bizarre, auf den ersten Blick nicht erkennbare Formen. Deshalb ist jedes Bild am Ende mehr als nur die Addition zeitgeschichtlicher Dokumente. Auch bei der „Grenzerfahrung“ bleibt ein ungeklärter, eine Interpretation herausfordernder Rest: Das rote Objekt in der Ecke rechts oben, ist das eine Drohne oder eines dieser Spielzeuge, die Kinder mit einem Federaufzug in die Luft schießen? Gleich daneben verläuft eine rote Linie wie eine Mauerkrone schräg durchs Bild, das könnte der Grenzwall sein. Den allerdings gab es „real“ am Checkpoint gar nicht. Ausnahmsweise verrät der Künstler, was hinter diesem Phänomen steckt: Es war – auf seiner Fotovorlage – Breschnews Flugzeug samt Propeller an einer quer durchs Bild ragenden Tragfläche.

 

Damit kommt die Kunstbetrachtung zum Schluss, ein wenig abrupt. Üblicherweise fehlt die „Gebrauchsanweisung“, dann gilt für Boehms Arbeiten die Parole von Marcel Duchamp: „Der Betrachter vollendet das Bild!“ Im Blick auf virtuos verfremdete Szenerien ergeben sich Assoziations- und Erinnerungsketten. Als besonders ergiebig erweist sich ein kleiner „Bilderstreit“, wenn zwei, drei oder gar vier Betrachter zusammenkommen.

 

Der Physiker erklärt die eigenartige Wirkung der Aquarelle mit „double layer“. Durch diese Beschichtung von beiden Seiten wird auf einer DVD der Speicherplatz schlicht verdoppelt. In der Lasurtechnik der Malerei aber decken sich die Schichten nicht zu, sondern erzeugen in ihrem Aufeinandertreffen eine halbtransparente Tiefe, also im Wortsinn „unvorhergesehene“ Räume.

 

Die Physiologin führt das „Nachbild“ ins Feld, als optische Täuschung, die sich durch Überreizung der Netzhaut-Rezeptoren beim Blick in die Sonne oder im schnellen Wechsel zwischen hellen und dunklen Bildpartien ergibt.

 

Der Medienhistoriker erinnert an den Ursprung der Pressebilder, die noch bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts als Holzstich nach der Vorlage des „Originalfotos“ gedruckt wurden. Zeichnungen wirkten für die Zeitgenossen damals authentischer und glaubwürdiger im Vergleich zu den mit Stativkameras auf Glasnegativen festgehaltenen Fotos. Und eines Illusionseffekts bedient sich Fotografie ja bis heute, wenn der Apparat mit der „Aufnahme“ des reellen Raums vor dem Objektiv einen virtuellen Bildraum hervorbringt.

 

Die Kunstinteressierte schaut nur hin und sieht – Kippfiguren. Darunter versteht man Darstellungen, die zwei Objekte, Szenen oder Situationen gleichzeitig, in flirrender Doppeldeutigkeit präsentieren. Im Profil einer jungen Frau verbirgt sich das Porträt einer Greisin, aus dem Entenkopf wird ein Kaninchen – das sind die einschlägigen Beispiele. Mit seinen übereinander aquarellierten oder gezeichneten „Mehrfachbelichtungen“ ruft Peer Boehm komplexere Assoziationen hervor. Im steten Wechsel der Blickwinkel kippen Motive von der Anschaulichkeit in Abstraktion – und wieder zurück. Aus dem „kollektiven Bildgedächtnis“ für alle verbindlich fixiert, werden sie im Wirbel eigener Erinnerungen neu sortiert, individuell interpretiert.

 

Das Brandenburger Tor ist so eine typische Landmarke, ein historischer Fixpunkt, fest verankert im Gedächtnis. Peer Boehm macht das unverrückbare Monument mit blauer Farbe zur Grundlage, zur „Tiefenschicht“ seines Bildes. Darüber liegt eine heftig bewegte Szene in rot: vier Kinder oder Jugendliche, die an einem dicken Tau ziehen. Der Gegenspieler in diesem Kräftemessen, die Gruppe am anderen Ende des Seils, steckt außerhalb des Bildrandes, bleibt unsichtbar. Eine Situation, die im Kalten Krieg alltägliche Übung war in den Manövern der NATO („Blauland“) gegen die „roten“ Truppen des Warschauer Pakts. Die politische Farbsymbolik nimmt in der Arbeit „Tauziehen“ Gestalt an, wird verblüffend anschaulich. Unsere scheinbar konkrete Erfahrung urbaner Räume gerät dadurch ins Wanken. Jede Gewissheit, all diese Orte und Plätze mitten in Berlin oft gesehen und damit für alle Zeiten „abgespeichert“ zu haben, schwindet in der von Boehm provozierten Rückschau. An ihre Stelle schiebt sich ein Gemisch aus historischen Bildern und subjektiven Vorstellungen, wie von einem Katalysator befeuert durch die Imagination des Künstlers.

 

Pittoreske Malschlachten vermeidet Peer Boehm, er hält das Material kalt, ohne ausgetüfteltes Kalkül, aber mit gediegener Balance. Und folgt – locker und empfänglich für Zufälle – einem Konzept.

 

In vier Phasen entstehen die Bilder. Am Beginn steht die Recherche, die Suche nach Fotovorlagen. Es folgt die Bearbeitung am Computer, und zwar auf recht ungewöhnliche Art: Sind die üblichen Anwender von Photoshop & Co. darauf aus, ihre Aufnahmen „fotogen“ aufzuhübschen, die Schärfe zu optimieren und die Farbenpracht zu erhöhen, so geht es dem Erinnerungskünstler um extreme Hell-Dunkel-Kontraste und die Reduktion oder gar das Auslöschen von Details. Die klaren Umrisse verschwimmen, das einst dokumentierte Geschehen ist kaum mehr nachzuvollziehen, entzieht sich jedem Zugriff, jedem „Begreifen“ auf den ersten Blick. Aber in der Projektion auf Leinwand oder Papier erwachen die „historischen“, archivierten und ins kollektive Gedächtnis abgesackten Aufnahmen zu neuem Leben. Derart „unfassbar“ verfremdet werden sie in einer dritten Phase mit Pinsel oder Kugelschreiber übertragen. Und nun wollen die Bilder neu, unverstellt und auch mit einem inneren Auge gesehen werden.

 

Ein erster Anhaltspunkt findet sich in der Farbstimmung, den sanft gesättigten Blau- und Rottönen. Da folgt Peer Boehm, Jahrgang 1968, seinem Gespür für die jüngst vergangene Epoche von Kodachrome und Technicolor. Auch die Motivwahl ist – ohne Nostalgie – bestimmt von seiner Vorliebe für die Jahre zwischen 1940 und 1970, also jener nahen „Vorvergangenheit“, die die Eltern-Generation direkt erlebt hat. Aber selbst Zeitzeugen sollten sich bei diesen Bildern nicht auf ihr Gedächtnis verlassen: Um seine Arbeit noch einen Tick mehr zu verunklaren, setzt vor allem der Zeichner in einer vierten Phase den Zufall ein: Wird Kugelschreiber mit Fixativ auf Papier imprägniert, fängt er an auszublühen. Dieser Prozess wird durch heißes Bügeln verhindert oder beeinflusst. Peer Boehm entscheidet sich meist für Letzteres und lässt – ohne direkte Sicht auf sein Bild – unterm Bügeleisen den Zufall walten. Also das Gegenteil des peniblen „Ausbügelns“.

 

Bei den Leinwandarbeiten beginnt der Maler auf gut Glück: Nach der Grundierung wird blaue oder rote Farbe unkontrolliert auf die horizontal und vertikal gekippte Leinwand getröpfelt. Das ergibt Farbschlieren, die sich als unregelmäßiger Schleier über die Bilder legen. In diesen blauen Dunst ist auch eine Szene mit winkenden Menschen auf einem vollbesetzten Schiff getaucht, vermutlich ein Dampfer? „Ein Truppentransporter“, präzisiert Peer Boehm. Es handelt sich um amerikanische Soldaten, die aus dem Zweiten Weltkrieg nach Hause kommen. Und deren Winken – mit dieser Zusatzinformation – natürlich „fröhlich“ aussieht.

 

Darauf hätte man auch über den Titel kommen können: „Daheim ist am schönsten“. So nennt der Künstler Arbeiten, die nicht von sich aus einen treffenden Titel hervorrufen. „Daheim ist am schönsten“ hat es zur Serienreife gebracht, der andere Teil dieser Bilderreihe heißt „Woanders ist auch schön“. In dieser paradoxen Kombination ist das eine passende, weil nicht zu eng geklammerte Umschreibung für Reisen im Kopf, die von den hin und wieder mit Rost oder Schellack seltsam markierten Aquarellen gestartet werden.

 

Einige Zeichnungen fordern ebenfalls zur Ortsveränderung auf, zumindest hintergründig: Als Bildträger benutzt Peer Boehm nämlich Seekarten. In anderen Fällen sind es alte Kontobücher der Jahrhundertwende, also um 1900. Die Rubriken „Haben“ und „Soll“ lassen die damalige autoritäre Mentalität anklingen, getrimmt auf Disziplin und Leistung. Diesen kaufmännischen Blick auf Zahlen und messbare Rekorde scheinen die Bilder aufzunehmen, denn es geht um Autorennen oder Hürdenlauf. Aber die modernen Werbeschriften beim Avus-Rennen oder die federleichte Eleganz von Jesse Owens bei den Olympischen Spielen 1936 in Berlin brechen diese Perspektive.

 

Die Konfrontation blauer und roter Motive, die Überlagerung der Bildebenen setzt sich fort in der Gegenüberstellung von zwei einzelnen kleinformatigen Arbeiten mit ausgesuchtem „Zeitkolorit“: Vor Plattenbauten kauert ein Mädchen einsam am Rinnstein, als „Rotkäppchen“ eingeklemmt zwischen Kinderwagen auf der einen, dem Trabbi-Auto auf der anderen Seite. In einem spießigen Wohnzimmer – Perserteppich, Beistelltischchen mit gedrechselten Beinchen – fläzen zwei Jungen im Polstersessel mit Blumenmuster vor einem riesigen Dampfradio, darüber hängt an der Wand das ikonische Porträt von Che Guevara, gerahmt! „Daheim ist am schönsten“ nennt Peer Boehm die Szene – und fügt hinzu: „Freitags einfach mal blau machen“. Da wird es aktuell: „Dieses Bild nimmt Bezug auf die Freitags-Demonstrationen, Fridays for Future, und karikiert diese Bewegung. Nicht, dass ich der jetzt besonders kritisch gegenüberstünde oder dafür kein Verständnis hätte. Aber mein eigener Sohn, der geht nicht unbedingt auf diese Demos, weil er letzten Endes zu faul ist, weil er lieber zu Hause vorm Computer hängt, so, wie die beiden hier vorm Radio hängen.“

 

So schleicht sich denn doch bei aller Zeitgeschichte auch etwas Autobiographisches ein. Nicht zuletzt mit einem für Peer Boehms Generation ikonischen Foto, Willy Brandts Kniefall in Warschau. Seit Jahren schon hat er sich mit dem Gedanken getragen, diese epochemachende Geste zu malen. Aber erst mit den Black Lives Matter-Protesten fand sich die angemessene Umsetzung: Ein Schwarzer kniet vor einer Reihe schwer bewaffneter Polizisten und breitet die Arme weit aus. Das war die Entsprechung zu Brandts Kniefall, Peer Boehm setzte beide Motive in eins, blendete zwei Jahrhunderte übereinander. „Ohne Titel“ – weil die Menschen zu Gesten greifen, wenn die Worte fehlen, heute wie vor 50 Jahren. Was bleibt, sind Bilder.